Vinyl-On-Demand :: - ABOUT_VOD (2024)

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"Der Mann mit dem Knall"

Für jedes Gedicht gibt es ein Literaturarchiv. Doch wer kümmert sichum die Randphänomene des Pop? Jahrelang sammelte Frank MaierIndustrial- und Geräuschmusikplatten. Dann gründete er dasWiederveröffentlichungslabel Vinyl On Demand VON ANDREAS HARTMANN

Oberhalb des Industriegebiets in Friedrichshafen am Bodenseein einem Bestattungsinstitut und direkt neben dem Friedhof befindetsich das Office von Vinyl On Demand, das gleichzeitig auch einfach nurdie Wohnung von Frank Maier ist. Erwartungsgemäß dreht sich hier allesum Platten, im Hausflur stapeln sich bereits die neuesten Pressungendes Labels und in der Wohnung strecken sich die vollgestellten Regalebis an die Decke. Wenn Frank Maier sagt, er habe Angst, dass das Hausirgendwann dem hier verteilten Gewicht nicht mehr standhalten könnte,dann meint er das nicht nur spaßig. Wir befinden uns hier nicht nur ineiner Art Wohnbüro, sondern auch in einem Archiv, bestimmt einem dervollständigsten überhaupt für obskure Musik aus den Siebzigern undAchtzigern, speziell aus Deutschland.

Früher waren alldiese Platten und Kassetten lediglich Teil einer fanatischzusammengeklaubten, über 20 Jahre hinweg entstandenen Sam mlung. DieBestimmung von gesammelten Gegenständen ist es normalerweise, ihrenBesitzer mit Stolz zu erfüllen und von ihm regelmäßig abgestaubt zuwerden. Bei Frank Maier war das Jahre lang nicht anders. Sein Antriebwar es, irgendwann die perfekteste Sam mlung der Welt für Industrial,obskure Geräuschmusik und Avantgarde zu besitzen. Vielleicht hat er dassogar geschafft. Doch irgendwann, nahezu im Stadium der Perfektionangekommen, nagte die Frage an ihm: Und jetzt? Den ganzen Krempeleinmotten für die Enkel, in einen Banktresor damit? Frank Maier kameine andere Idee: Seit ein paar Jahren benutzt er seine Sam mlung alsArchiv, virtuelles Museum und Forschungslabor, er selber betrachtetsich als eine Art Restaurator von beinahe verschollenem Tongut.

Esgibt Filmarchive und Literaturinstitute, die sich um jedes auf einenBierdeckel gekritzelte Gedicht eines halbwegs bekannten Autor s kümmern. Doch wer sorgt sich um den vollständigen Erhalt popkulturellerRanderscheinungen, die keine Plattenfirma des Geldes wegen liebevollbetreut, für die sich aber auch keine staatliche Institution zuständigfühlt? Viele dieser Randerscheinungen sind Ende der Siebziger, Anfangder Achtziger als Teil einer damals florierenden Tapeszene lediglichauf Kassetten oder auf selbst gepressten Singles in lächerlichniedrigen Auflagen erschienen. Die Industrial- und Avantgardeszenedieser Zeit legte großen Wert darauf, alles in den eigenen Händen zubehalten, und man verkaufte lieber billig produzierte Kassetten mithandgemachten Covern auf Konzerten, bevor man seinen Namen unter einenVertrag irgendeiner Plattenfirma setzte. Zudem haben selbst Stars derSzene wie Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten oder GabiDelgado von DAF meist schon Musik vor ihren erstenPlattenveröffentlichungen aufgenommen. Komisches, aber vielleichtinteressantes Zeugs, roh und ungeschliffen, unkommerziell undaufregend, manchmal beknackt und genial gleichzeitig. Genau an dieserMusik ist Frank Maier interessiert. Für ihn ist das der Stoff, dessenEinfluss auf die experimentelle Musik von heute kaum zu überschätzensei. Hier komme alles her, sagt er, auch Techno, das sei der wahreUrsprung aktueller elektronischer Musik.

Frank Maiererforscht Popkultur, die so noch nirgendwo historisiert wurde. ImGrunde kümmert er sich um eine Terra incognita, um Vergessenes oderVerdrängtes, sozusagen um die Geschichte vor ihrer eigentlichenGeschichte. "In einer Zeit, in der sich Popmusik hauptsächlich selbstzitiert", sagt er, "liegt das Neue im Entdecken des Alten." Deswegenarchiviert und digitalisiert er seit ein paar Jahren seine Tonträgerund Dokumente. 100.000 Tonträger hat er allein auf seiner Website www.record-price-guide.orgarchiviert, auf der man auf Maiers eigene Erfahrungen als Extremsammlerzurückgreifen und wo man sich über den Wert rarer Tonträger informierenkann. Sein enzyklopädisches Wissen wollte er auch bereits dem DeutschenMusikarchiv zugute kommen lassen. "Doch die haben abgewunken, weil sienur archivieren, was sich auch in ihrem Bestand befindet." Und an alldie Tonträger, von denen Frank Maier weiß, wären sie niemalsrangekommen. Seit gut zwei Jahren betreibt er nun auch noch seineigentlich wahnwitziges Label Vinyl On Demand.

In einerwahren Veröffentlichungswut hat er hier in kürzester Zeit sackweiseverloren geglaubte Perlen vor allem der deutschen New Waveveröffentlicht, aber auch einschlägige Platten des Industrial, etwa vonActs wie The New Blockaders, deren Originale hunderte von Dollars aufBörsen bringen und die nicht nur von Sonic Youth' Thurston Moorekultisch verehrt werden. Der Witz dabei ist, dass Maier dashoffnungslos veraltete Medium Kassette auf das vermeintlich genausohoffnungslos veraltete Medium der Vinyl-Platte überträgt, auf die CDverzichtet er bislang vollständig. Vinyl, so behauptet er, wird esimmer geben, die Haptik und das erhebende Gefühl, wenn die Plattennadelsich auf das Vinyl senkt, werde noch Bestand haben, wenn der iPod denCD-Player so vollständig verdrängt hat wie der DVD- Player demnächstden Videorecorder. Das wirklich Lustige ist jedoch: Frank Maier ist vonAnfang an mit seiner Idee auf offene Ohren gestoßen.

Erhat einen Markt geschaffen, den es vorher gar nicht gab, einen Marktfür alte Musik, die es vorher mehr oder weniger auch nicht gab. Vorallem Wolfgang Müller von der Berliner Obskurband Die Tödliche Doriswar Geburtshelfer für Maiers Spinneridee. Er hat die Rechte an gleichmehreren Tapes und vorher nie veröffentlichten Aufnahmen freigegeben,die in 500er-Auflagen erschienenen Platten auf Vinyl On Demand warensofort ausverkauft, darunter sogar eine 6-LP-Box. Müller empfahl Maierweiter und so wurde das Konzept zum Selbstläufer: Bizarre Musik trifftauf eine bizarre Labelphilosophie, bei Vinyl On Demand stimmen Form undInhalt immerhin hundertprozentig überein, und das hat viele überzeugt.Dass Frank Maier ein echter Maniac ist, fanatisch und besessen, hat ihmdabei nur geholfen. "Auf solche obsessiven Leute habe ich immergewartet", sagt Wolfgang Müller . "Frank Maier hatte irgendwann bei mirangerufen und mir mit seinem schwäbischen Akzent erklärt, dass er einLabel machen und Tapes der Tödlichen Doris herausbringen wolle. Ichfand sein Labelkonzept gleich lustig. Er kam dann mit mehr Tapes meinerdamaligen Band vorbei, als ich selbst besitze und von deren Existenzich nicht mal wusste."

Bislang funktioniert das Labelals Fanprojekt, ohne Gewinn abzuwerfen, das auf einenCommunity-Gedanken aufbaut: Künstler, Labelbetreiber und Kundenarbeiten miteinander, ziehen an einem Strang, helfen sich gegenseitigund tauschen sich untereinander aus; die Plattenindustrie dürfte sichangesichts dieses funktionierenden Konzepts verwundert die Augenreiben. Viele der von Maier nach den Rechten für Veröffentlichungenangefragten Künstler sind verwundert, dass sich überhaupt noch jemandan sie erinnert, sind dann aber umso begeisterter mit dabei und machenselber Vorschläge für weitere Veröffentlichungen oder schicken gleichbereits fertige Bänder. Vinyl On Demand bietet inzwischen auch einenClub an, deren Mitglieder Maiers Trüffelschwein-Instinkt so sehrvertauen, dass sie ihm jede Platte blind abnehmen, und auf Wunsch lässtMaier nach dem Book-On-Demand-Prinzip auch bestimmte Tapes auf Vinylpressen, falls er die Rechtefragen geregelt bekommt. Der Archivierungs-und Entdeckungswahn von Frank Maier scheint unermesslich. Er träumtinzwischen von "Maiers Almanach", einer ultimativenGeräuschmusik-Enzyklopädie, Nachdrucken längst vergessenerIndustrial-Fanzines und DVD-Kollektionen. Demnächst wird er eine LP-Boxsamt DVD und einem Buch von Wolfgang Müller anlässlich des 25-jährigenJubiläums des Festivals der Genialen Dilletanten in Berlinherausbringen. Für ihn ist dieses historische Konzert, das als "DieGroße Untergangsshow" bekannt wurde, ein prägendes Ereignis für das,was später von New Wave bis Techno in Deutschland passierte. GroßeTeile der aktuellen Berliner Szene haben hier ihren Ursprung, meint er.

Und wahrscheinlich hat er Recht. Begeistert sichtet ernochmals das Filmmaterial für die DVD, stoppt an einer Stelle, zeigtauf einen jungen, schlanken Typen am Bass und fragt, ob man wisse, werdas sei. Natürlich nicht. "Das ist Westbam mit seiner damaligen BandKriegsschauplatz Tempodrom. Dauernd verpasst er den Einsatz." Egal, ober damals den Einsatz verpasste, heute ist Westbam deutscherTechno-Mogul. Auch sein Kollege Dr. Motte war übrigens damals schonaktiv. Maier besitzt seine Tapes, die er als DPA, Deutsch PolnischeAggression, veröffentlicht hatte. Krude, aber zeithistorischinteressante Aufnahmen. Maier hat Motte bereits angeschrieben, dass ersie gerne veröffentlichen würde. Eine Antwort hat er bislang noch nichtbekommen.

Ein Link auf diese Artikel befand sich auch auf www.Spiegel.de, www.Perlentaucher.de und www.Netzzeitung.de

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